Dokumentation der bundesweiten IvAF-Fachtagung am 04./05.11.2021 in der Akademie Waldschlösschen

Unter dem Titel „Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenswirklichkeit Schutzsuchender“ trafen sich am 4. und 5. November d. J. über 40 Kolleg:innen aus 19 IvAF-Verbünden in der Akademie Waldschlösschen bei Göttingen. Angeregt durch hoch interessante Inputs von Prof. Dr. med Kayvan Bozorgmehr von der Universität Bielefeld, Frau Ildikó Pallmann von Minor (Berlin) und Maryam Mohammadi vom Flüchtlingsrat Niedersachsen wurden Fragen rund um die Folgen der Pandemie für Schutzsuchende bzgl. Arbeit, Ausbildung und Gesundheit diskutiert. Außerdem legten Manuel von Gilsa (Diakonie Michaelshoven) und Frau Dr. Barbara Weiser (Caritas Osnabrück) Grundlagen hinsichtlich der Erst-Diagnostik sowie des sozialrechtlichen Rahmens bei Behinderung. In anschließenden Arbeitsgruppen wurden auf Grundlage der Vorträge Erfahrungen ausgetauscht sowie Handlungsbedarfe und Handlungsempfehlungen diskutiert.

Prof. Dr. med Bozorgmehr eröffnete die Tagung mit seinem Referat zu „Corona und seinen gesundheitlichen Folgen für Geflüchtete“. Dabei legte er erschreckende Zahlen vor, die belegten, dass insbesondere die Gruppenquarantäne in Gemeinschaftsunterkünften ein erhöhtes Ansteckungsrisiko für Geflüchtete mit sich brachte, ja, die Weigerung seitens Politik und Verwaltung, Geflüchtete dezentral unterzubringen, die Gefährdungslage für diese Personengruppe verfünffachte. Folglich plädierte Bozorgmehr für eine Abkehr von der Gemeinschaftsunterbringung Geflüchteter, für ein Ende der Kollektivquarantäne im Infektionsfall, für eine verbesserte Kooperation mit den Gesundheitsämtern, eine Prävention, die der Pandemie und dem Schurzbedürfnis der Betroffenen gerecht wird sowie eine wesentliche Verbesserung der Datenlage hinsichtlich der Gesundheitsversorgung. (Den Vortrag von Prof. Dr. med Bozorgmehr finden Sie demnächst hier.)

Ildiko Pallmann und Sigmar Walbrecht auf der IvAF-Fachtagung am 04.11.2021
Diesen digital zugespielten Vortrag (von der Möglichkeit der digitalen Teilnahme an der Tagung machten Kolleg:innen bundesweit aus weiteren IvAF-Netzwerken Gebrauch) ergänzten Ildikó Pallmann und Maryam Mohammadi mit ihren Inputs zu den „Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeitsmarktintegration von Frauen mit Fluchterfahrung“. Ausgehend von der Beobachtung, dass Frauen mit Fluchterfahrung auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen deutlich unterrepräsentiert sind, stellte Pallmann fest, dass die verhältnismäßig kleine Gruppe erwerbstätiger Frauen auch noch häufig im Helfer.innenbereich tätig ist – und zwar unabhängig von ihren tatsächlichen beruflichen Qualifikationen – und gleichzeitig häufig in atypischen oder prekären Arbeitsverhältnissen arbeitet. Während also das Verhältnis von sozialversicherungspflichtig beschäftigten Männern zu Frauen mit deutschem Pass bei ca. 50:50 liegt, sind Drittsaatsangehörige Frauen nur noch mit einem Anteil von 35:65 vertreten, Frauen aus sog. Asylherkunftsstaaten nur noch mit 14:84 unter den Beschäftigten zu finden. Durch die Pandemie beobachtete Pallmann neben dem Wegfall zahlreicher typischer prekärer Jobs (Tourismus, Handel, Lebensmittelherstellung und -verarbeitung) einen Zuwachs an Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung für einzelne Gruppen der Zugewanderten in den Berufsgruppen, in den schwierige Arbeitsverhältnisse anzutreffen sind, wie Transport und Logistik sowie Bau. Für Frauen mit Fluchterfahrung vor allem im Reinigungsbereich. Diese Zahlen konnte Pallmann auch durch die Begfragung von Mitarbeiter:innen der Jobcenter untermauern. Hier hieß es, dass „Corona wie ein Brennglas [sei]: Alle Gruppen, die ohnehin schon Schwierigkeiten hatten, in den Arbeitsmarkt einzumünden, haben es nun noch schwerer, so auch Migrantinnen.“ (Mitarbeiterin JC Bremen). Beobachtet wurde auch eine Prekarisierung durch den Ausschluß Beschäftigter mit Minijobs sowie ausschließlich geringfügig Beschäftigter (agB) von Kurzarbeitergeld sowie einer zunehmenden Umwandelung regulärer, unbefristeter Arbeitsverhältnisse in befristete und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Verschärfend hier, dass der Anspruch auf Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld dadurch entfällt. Frauen waren von diesen Entwicklungen messbar stärker betroffen als Männer.
Erschwerend kam die vorübergehend stark eingeschränkte Erreichbarkeit der Arbeitsämter und Jobcenter hinzu. Die zum Teil ausschließlich telefonisch geführte Kommunikation war für viele Betroffene kaum möglich. Der Wegfall der Sprachkurse war auch in diesem Sinne für geflüchtete Frauen eine Katastrophe.
Pallmann schloß ihren Vortrag mit der Forderung, Frauen in nächster Zeit besonders stark in den Blick zu nehmen und bedarfsgerecht zu unterstützen. Der Fokus sollte hierbei noch stärker als bisher auf einer qualifizierten Beschäftigung zu fairen Bedingungen liegen.
(Den Vortrag von Frau Pallmann finden Sie hier)

Maryam Mohammadi auf der IvAF-Fachtagung am 04.11.2021
Anknüpfend an die Beobachtung Pallmanns hinsichtlich der Schwierigkeiten beim Spracherwerb unter der Pandemie, ergänzte Maryam Mohammadi mit ihren Interviewergebnissen aus Hannoverschen Unterkünften diese Forschungsergebnisse. Besorgniserregend hier die schlechten Zahlen zu Internetzugang (67% der Befragten hatte keinen stabilen WLAN-Zugang), Verfügbarkeit von Endgeräten (zwei Drittel der Befragten hatten nur ihr Smartphone als Endgerät zur Verfügung, kein Tablet, keinen Drucker,…) und der mangelhaften Qualität der digitalen Bildungsangebote. Hier wurden pandemiebedingte Hürden im Zugang zu Bildung sichtbar, die erschreckend waren. Zusätzlich erschwert wurde der Bildungszugang jenen Frauen, deren Kinder kein Betreuungsangebot mehr erhielten und die dadurch zuhause das konzentrierte Lernumfeld verloren ging. Hier müssten tatsächlich viele „wieder bei Null anfangen“, wie es eine AG-Teilnehmerin formulierte. Zusätzlich unterstrichen die befragten Frauen auch Diskriminierungserfahrungen bei der Arbeitsplatzsuche. (Den Input von Frau Mohammadi finden Sie hier)

In der anschließenden AG wurde denn auch die Forderung unterstrichen, eine dezentrale Unterbringung, den Zugang zum Internet und die Verfügbarkeit von Endgeräten, sowie Kinderbetreuung endlich zu gewährleisten. Auch die Möglichkeit der digitalen Angebote auszuschöpfen sei das Gebot der Stunde, meinten die Kolleg:innen und verwiesen z.B. auf die Möglichkeit, überregionale Berufsfachsprachkurse digital anzubieten, bzw. den Ausbau digitaler Kompetenzen als Lehrinhalt aufzunehmen. Angeregt wurde auch eine aufsuchende Beratung im digitalen Raum, bei der sich Berater:innen in die social-media Räume begeben, wo sich das Klientel bewegt und die relevanten Fragen gestellt werden.

Abgerundet wurde diese bundesweite IvAF-Fachtagung am Freitag durch einen Input von Manuel von Gilsa und Frau Dr. Barbara Weiser. Herr von Gilsa führte in das Schema des ICF (des International clasification of function) ein, mit dem Beeinträchtigungen und behindernde Umwelteinflüsse beschrieben, kategorisiert und identifiziert werden können. Er erläuterte zudem, nach welchem Muster hier in der professionellen Behindertendiagnostik international vorgegangen wird und stellte anschließend den von ihm mit entwickelten strukturierten Leitfaden für die (Erst-)Beratung für migrierte Menschen mit Behinderung vor. Eine Beratungshilfe, die von vielen Kolleg:innen als sinnvolle Bereicherung für ihre Beratungspraxis empfunden wurde. (Seinen Input finden Sie hier)

Frau Dr. Barbara Weiser erläuterte anschließend die für asylsuchende Menschen mit Behinderung nur schwer umschiffbaren Klippen des Asylbewerberleistungsgesetzes sowie des SGB bzw. die Lücken in der Versorgung, die sich aus dem Aufenthaltsstatus ergeben können und oft nur auf dem Klageweg zu schließen sind. Dabei ist dieses Feld noch undurchsichtiger als das AsylblG ohnehin. Denn neben einer Vielzahl unterschiedlicher Leistungsträger (u.a. AA/JC, Sozialamt, GKV, Unfall-, Rentenversicherung, Jugendhilfe, Städt und Landkreise) regeln auch unterschiedlichste Rechtskreise das Procedere des Leistungsanspruchs. Dabei geht es dann um Eingliederungshilfen, Hilfen zur Teilhabe an Bildung oder sozialer Teilhabe, jener zur Rehabilitation oder spezielle ausbildungsspezifische bzw. berufsschulische Angebote. Deutlich wurde zudem in den Erläuterungen von Weiser, dass einige Leistungen, wie z.B. die Eingliederungshilfe für Menschen im Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz lediglich im Rahmend es Ermessens gewährt werden können, wodurch a) der Willkür oft Tür und Tor offenstehen und b) eine anwaltliche Vertretung oder die einer Beratungsstelle angeraten ist. Weiser machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass sich zur Durchsetzung der Leistungsansprüche ggf. auf höherrangiges Recht wie die EU-Aufnahmerichtlinie oder die UN-Behindertenkonvention berufen werden muss. (Den Input von Frau Dr. Weiser finden sie hier)

AG II
Insbesondere die Frage, welche Beratungskompetenz sich die Kolleg:innen hier selbst aneignen können und wo Verweisberatung angezeigt ist, haben die Teilnehmer:innen mit in die anschließende AG-Phase genommen. In der AG-Phase wurden denn auch Forderungen nach einer flexibleren Ausgestaltung der Leistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderung laut, sowie die nach Abschaffung des (diskriminierenden) Asylbewerberleistungsgesetzes. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Fragen der Erst-Diagnostik bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen geklärt werden sollten, bevor Menschen an Orte verteilt werden, an denen sie keinen adäquaten Zugang zu Hilfen erhalten können. Zusätzlich wurde in den AG’s aber auch festgestellt, dass der Umgang mit Behinderung, das Sprechen über Beeinträchtigung und Bedarf oftmals einen Raum voller Tabus und Denkverbote darstellt, für dessen Bearbeitung Kompetenz und Handwerkszeug erarbeitet werden muss. Die notwendig verbesserte Vernetzung aber mit z.B. EUTB-Stellen oder der Fachstelle für Migration und Behinderung wurde allseits angemahnt. Gleichzeitig wurde dieses Thema aber auch als zukünftiger Schwerpunkt in der IvAF-Aufgabenstellung identifiziert und eine Weiterbearbeitung auf einer Folgeveranstaltung angeregt.
Die Fachtagung fand großen Anklang und war für alle Teilnehmenden auch hinsichtlich Vernetzung und des informellen Austauschs ein wichtiges Ereignis.

Die Pressemitteilung, in der wir insbesondere Politik und Verwaltung unsere aus der Fachtagung resultierenden Forderungen vorgelegt haben, finden sie hier.

Literaturhinweise:

  • Ad Covid und Arbeitsmarktintegration allg.:

1. Kompetenznetz Public Health COVID-19: SARSCoV2 bei Migrant*innen und geflüchteten Menschen, Policy Brief vom 23.03.2021

2. Christiane Fritsche, Ildikó Pallmann, Christian Pfeffer-Hoffmann: Arbeitsmarktintegration von Migrantinnen – Erfolgsfaktoren regionaler und kommunaler Förderkonzepte. Über die Rolle der Arbeitsagenturen und Jobcenter bei der Arbeitsmarktintegration von Frauen mit Migrationserfahrung.

3. Herbert Brücker, Lidwina Gundacker, Andreas Hauptmann, Philipp Jaschke: Die Arbeitsmarktwirkungen der COVID-19-Pandemie auf Geflüchtete und andere Migrantinnen und Migranten; IAB Forschungsbericht 5/2021

4. Dr. Aleksandra Lewicki: Sind Menschen mit Migrationshintergrund stärker von Covid-19 betroffen?, Sussex Juni 2020. Hrsg. Mediendienst Integration
Download unter:

5. Felix Bluhm, Peter Birke, Thomas Stieber: Hinter den Kulissen des Erfolgs. Eine qualitative Untersuchung zu Ausbildung und Erwerbsarbeit von Geflüchteten, SOFI Working Paper 2020-21, Göttingen: SOFI

  • Ad „Flucht und Behinderung“

1. Der Beratungsleitfaden nach ICF

2. Crossroads: Projekt von Handicap International: Crossroads bildet Fachkräfte der Flüchtlingshilfe und der Behindertenhilfe fort und fördert deren Vernetzung (Capacity Building) Roadbox: Informationen für Fachkräfte aus der Behindertenhilfe und der Flüchtlingshilfe

3. Maren Gag und Dr. Barbara Weiser: Leitfaden zur Beratung von Menschen mit Behinderung im Kontext von Migration und Flucht, Hamburg 2020, Leistungen zur gesellschaftlichen Teilhabe für Geflüchtete mit Behinderung, je nach Aufenthaltsstatus.

4. Link zu der Onlineplattform, die die ICF mit den jeweiligen Kategorien sehr übersichtlich darstellt und sehr viel Literatur bereitstellt

5. Zwei Publikationen zu ICF und berufliche Rehabilitation: Der Praxisleitfaden Nr. 4

6. Das Bedarfsermittlungskonzept für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

7. Das Question-Set der Washington Group bietet eine niedrigschwellige Identifizierung von Behinderung. Es werden mehrere Sprachen angeboten, allerdings hat eine Übersetzung in die deutsche Sprache noch nicht stattgefunden.)